Der Tag, an dem Gerlinde Schreiber nicht mal mehr aus dem Bett aufstehen wollte, er hatte sich nur vorsichtig angekündigt. Ganz leise - doch scheinbar musste es so kommen. Zu viel wurde alles für die Schultern der zierlichen, alleinerziehenden Frau mit ihren zwei Söhnen. Letztlich war der Zusammenbruch dann einfach da. Aber zu diesem Zeitpunkt war Gerlinde Schreibers Leidensweg schon längst eröffnet. Vieles brach weg, sie fand sich in einem Loch wieder. Die Menschen haben sich zahlreiche Namen einfallen lassen, um solche Zustände zu beschreiben: Burnout, depressive Verstimmung, Erschöpfung und, und, und. Für Branko Schäpers von der Caritas in Donauwörth ist die Arbeit mit Menschen wie Frau Schreiber Teil des beruflichen Alltags. Er versucht, die leidenden Menschen wieder fit zu machen für das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Damit sie es packen, ja, damit sie es zunächst überhaupt erst wieder anpacken. In Schreibers Fall mag er mittlerweile von einem großen Erfolg sprechen. Gerlinde Schreiber wirkt schüchtern. Bedächtig hält sie in Branko Schäpers kleinem Büro bei der Caritas in Donauwörth mit beiden Händen ihre Tasche fest. Sie heißt zwar weder Gerlinde noch Schreiber - und doch möchte die 53-Jährige aus Donauwörth ihre persönliche Geschichte den Menschen erzählen. Weil die Botschaft wichtig sei, weil sie wisse, dass es vielen ähnlich gehe. Doch sie will sich auch schützen, unerkannt bleiben.
Ein Burnout, beziehungsweise Depressionskrankheiten an sich, sie seien, wie Caritas-Geschäftsführer Schäpers berichtet, nach wie vor ein riesiges Tabuthema in der Öffentlichkeit, die er als ziemlich durchrationalisierte Leistungsgesellschaft sieht. Doch so rational wie auf dem gesellschaftlichen Gesamtplan, wo man stets jung, dynamisch und flexibel zu sein hat, läuft es eben nicht immer im richtigen Leben. Zwar geht es in Deutschland im Berufsalltag mitunter wesentlich humaner zu als in anderen Wirtschaftsnationen, doch auch hier gibt es zum Teil gravierende Probleme. Nicht umsonst beschäftigt Schäpers bei der Caritas in Donauwörth aktuell zwölf Menschen bei einem Wiedereingliederungsprojekt. Langsam sollen sich die meist seelisch Erkrankten wieder an die Gesellschaft und an die Arbeit gewöhnen. Die Gründe, warum den hier Beschäftigten meist ein völliger Zusammenbruch passierte, sind vielfältig. Viele Menschen schaffen das Tempo des modernen Lebens schlicht nicht mehr, manchmal sind auch die Anforderungen an sich und das Umfeld zu groß, oft kommen persönliche Schicksalsschläge hinzu. Bei Schreiber war es wohl die ungesunde Mischung aus allem, die sie schließlich zum Fallen brachte. Das Aufstehen nach dem Sturz brauchte eine lange Zeit. Wie Sozialpädagoge Schäpers er klärt, versuchten viele psychisch Erkrankte, außerhalb der eigenen vier Wände die Fassade aufrechtzuerhalten. Doch Kartenhäuser stürzten eben immer ein, irgendwann. Schreiber sagt heute: "Ich war eine gute Schauspielerin geworden." Aber schlussendlich wollte sie auch Hilfe. Als eine Psychologin ihr eine siebenwöchige Therapie verordnete, ging sie zu ihrer Chefin, einer Ärztin, bei der Schreiber als gelernte medizinische Fachangestellte gearbeitet hat. Es sei klar gewesen, dass es dort trotz des Verständnisses der Vorgesetzten nicht einfach so weitergehen konnte. Zu lange würde Schreiber ausfallen. Man trennte sich einvernehmlich.
Was folgte waren viele Therapieaufenthalte - die einen mehr, die anderen weniger erfolgreich. Zuletzt waren es eineinhalb Jahre in verschiedenen Einrichtungen. Die letzte habe geholfen; eine Atmosphäre des Respekts, des Nicht-alleine-Seins mit den Problemen habe ihr Rückhalt gegeben. Wieder in Donauwörth, schlug ihr die Psychologin nach einer Weile vor, über die Caritas wieder Fuß zu fassen in der Gesellschaft. Dort will man da sein für genau jene Notfälle. "Wir wollen hier als christliche Einrichtung, und das betont auch meine Chefin Maria Bauer, jedem die Türe offenhalten", sagt Schäpers. Er habe Schreiber dann in der Möbelfundgrube in Donauwörth untergebracht. Schäpers meint, das Maßhalten sei wichtig, auch bei der Arbeit. Zuviel davon sowie ein Zweifel an der Sinnhaftigkeit könne einen Menschen in Depressionen stürzen - andererseits gebe Arbeit Stütze, Struktur und könne letztlich auch vor Depression bewahren. In der Möbelfundgrube richten die Mitarbeiter Einrichtungsgegenstände aller Art sowie teils auch Elektrogeräte her und verkaufen sie an jedermann. Ein Höhepunkt der Woche sei die Arbeit donnerstags gewesen, als sie in der Ecke für Kinder Kleidung und Bücher sortierte.
Schäpers konnte ihre Stundenzahl langsam heraufsetzen. Schließlich habe sie sich wieder so weit fit gefühlt, dass sie in der Zeitung die Stellenanzeigen durchlas. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass ihre ehemalige Chefin inseriert hatte. Schreiber meldete sich per E-Mail, die Zusage kam prompt. Sie arbeitet wieder an alter Stelle, doch sie hat sich verändert. Dass sie überhaupt wieder Arbeit auf dem 1. Arbeitsmarkt fand, war nicht garantiert: Laut einer Studie des Robert- Koch-Instituts (RKI) und der Technischen Universität Dresden aus dem Jahr 2012 ist das Risiko, arbeitslos zu sein, für psychisch Erkrankte bis zu 15-mal höher als für Gesunde. Schäpers und Schreiber würden sich indessen mehr Ehrlichkeit in der Gesellschaft wünschen, weniger Fassade. Dann vielleicht hätten es Menschen mit psychischen Problemen leichter, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Unmöglich ist das nicht, wie Schreibers Beispiel zeigt. Hilfe gibt es: Menschen, die anderen Menschen Chancen geben.